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Mehr als ein Einzelschicksal: Sexismus am Arbeitsplatz

Ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern stellen eine wichtige Basis für Gender-Ungerechtigkeit und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz dar

Kann die das? Will die überhaupt Karriere machen? Die wird doch eh bald schwanger! Wie sieht die denn aus?

So oder so ähnlich und oftmals auch wesentlich drastischer sprechen Männer über Kolleginnen und weibliche Vorgesetzte, respektieren Grenzen von Distanz und Nähe nicht, werden ungewollt körperlich (ungefragt Arm umlegen, auf die Schulter klopfen oder mehr) oder entscheiden sich in Karrierefragen im Zweifel dann doch lieber für den männlichen Kandidaten.

Wie die Forschung zeigt, sehen sich Frauen noch immer mit klassischen Klischees konfrontiert, begegnen offenem und verdecktem Sexismus. Laut einer Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes haben neun Prozent der erwerbstätigen Personen in den letzten drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Frauen waren mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die meisten Belästigungserfahrungen waren keine einmaligen Vorfälle, sondern wiederholten sich. Die Täter waren überwiegend Männer. Nur 1 % dieser Delikte werden zur Anzeige gebracht. Die Dunkelziffer ist hoch. Im Sinne des AGG gilt, dass der oder die Betroffene allein entscheidet, was in ihren oder seinen Augen sexualisierte Belästigung ist. Ausschlaggebend laut AGG ist, ob die betroffene Person ihre Grenze überschritten und ihre Würde verletzt sieht.

Woher kommt das und warum diskutieren wir auch 2024 noch immer über dieses Phänomen, anstatt gleichberechtigt und auf jeder Ebene gleichgestellt in Wirtschaft und Gesellschaft unseren Weg zu gehen?

Als eine der Hauptursachen nennt die Forschung den Begriff der Unconscious Bias oder implizite Voreingenommenheit oder schlicht Vorurteile. Damit gemeint sind unser aller verzerrte Wahrnehmungen, die von Denkmustern geprägt sind, die wir bereits in der Kindheit erwerben und durch unsere Erfahrungen in Elternhaus, Schule und sozialem Umfeld weiter vertiefen. Ein dickes Brett, das es zu bohren gilt. Denn es gibt viele Biases. Vorurteile sind mentale Abkürzungen, die unserem Gehirn, das Millionen von Informationen pro Sekunde zu verarbeiten hat, darin unterstützen, Entscheidungen zu treffen. Sexismus entsteht meist durch eine Kombination von Vorurteilen, gedanklichen Annahmen und Eigengruppenbevorzugung. Diese werden durch gesellschaftliche Stereotype verstärkt.

Um nur einige Biases zu nennen, die Sexismus fördern:

Status-quo-Bias: „Manager, die keine weiblichen Führungskräfte kennen, werden immer dann, wenn alte Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren oder neue Mitbewerber auf den Markt treten, unbewusst Männer in ihrem Führungsteam bevorzugen, um nicht unnötig ins gefühlte Risiko zu gehen.“ sagt Dr. Julia Sperling-Magro von der Initiative Chef:innensache im WiWo-Interview von Katja Scherer (08. März 2024).
In einer Arbeitswelt, in der so gut wie alle Führungspositionen von Männern besetzt waren, die nicht durch Schwangerschaft und Geburt zeitweilig oder längerfristig als Arbeitskraft ausfielen und stets ausgeruht und zu Überstunden bereit standen, ist die Vorstellung einer Führungskraft, die in Teilzeit führt oder sich offen zu ihrer sozialen Verantwortung bekennt (und umsetzt), nach wie vor fremd. Also bleibt alles so wie es ist.

Bestätigungs-Bias: Unser Gehirn versucht stets Bestätigung für den berühmten ersten Eindruck zu erhalten. Alle folgenden Interaktionen werden unter diesem ersten Eindruck umgedeutet. Das gilt sowohl für die positive als auch für die negative Einschätzung einer Person. Ist der erste Eindruck der neuen Kollegin, dass sie ein „stilles Mäuschen“ ist oder umgekehrt, eine „Emanze“, wird tendenziell alles Folgende unter diesem Vorurteil wahrgenommen und bewertet. So bestätigen sich die eigenen Vorurteile immer wieder aufs Neue.

Gender-Bias: Verzerrung oder Vorurteile, die aufgrund des Geschlechts einer Person auftreten. Eine Studie des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) untersuchte 2019 den Einfluss von Gender-Bias auf die Bewertung von Bewerbungen. Dabei wurde festgestellt, dass männliche Bewerber bei gleicher Qualifikation als kompetenter bewertet wurden als weibliche Bewerberinnen. Frauen wurden durchschnittlich eine Schulnote schlechter bewertet als Männer, vor allem in männerdominierten Branchen. Viele Arbeitgeber bevorzugen Männer bei der Arbeitsplatzsuche. „(…) Das ist in Zeiten des Fachkräftemangels ein fatales Signal“, sagt Dorothea Kübler, Direktorin der WZB-Abteilung Verhalten auf Märkten.

„Chancengleichheit ist kein Nullsummenspiel – weder auf dem Arbeitsmarkt noch in anderen gesellschaftlichen Sphären. Neben der weiterhin nicht verwirklichten Gleichstellung erweist sich die mangelnde Erwerbsintegration von Frauen zunehmend als Hemmnis für die Linderung des Fachkräftemangels. Auch würde der Staat durch weniger Überbelastung von Frauen und Männern – und dadurch sinkende Krankheitseffekte – sowie durch weniger Altersarmut entlastet.“ sagt die Bertelsmann-Stiftung unter Hinweis auf die aktuellen Projektergebnisse Beschäftigung im Wandel.

Hier schließt sich der Kreis aus Vorurteilen, falscher Bestätigung, festgelegten Rollenzuschreibungen und anhaltendem Sexismus in unserer Gesellschaft und am Arbeitsplatz. Machen wir uns diese kognitiven Verzerrungen bewusst. Sprechen wir über die Mechanismen, die zu Ungleichheit und struktureller Benachteiligung führen! Lösen wir endlich Rollenstereotype auf. Oder wie es im WiWo Artikel treffend heißt: „Männer müssen wollen, dass Frauen Karriere machen“.

Weitere Informationen zu Initiativen und Projekte gegen Sexismus, sexuelle Belästigung, Rollenstereotype und Quellenangaben finden Sie am Ende des Beitrags.

Gemeinsam gegen Sexismus – Was die Unterzeichnung der Kampagne für den bdvb bedeutet

Der Fachausschuss Diversity des bdvb freut sich, dass der Verband die Kampagne „Gemeinsam gegen Sexismus“ unterzeichnet hat. Damit geht die Verpflichtung einher, den Worten Taten folgen zu lassen und die Maßnahmen der Kampagne mit Leben zu füllen.

Scannen Sie den QR Code, um die Erklärung „Gemeinsam gegen Sexismus“ und die darin enthaltenen Maßnahmen aufzurufen.

Durch den gesellschaftlichen Schulterschluss die Polarisierung der Sexismus-Debatte mildern

Das Bündnis „Gemeinsam gegen Sexismus“ zielt darauf ab, die Polarisierung der Debatte zu brechen, indem der evidenzbasierte Dialog im Vordergrund steht und alle Perspektiven einbezogen werden. Die Pilotstudie „Sexismus im Alltag“ belegt, dass Sexismus zwar überwiegend moralisch verurteilt wird, als Begriff aber sehr unterschiedliche Assoziationen erzeugt und Verharmlosungen nach wie vor an der Tagesordnung sind. Die Wahrnehmung des Phänomens variiert alters-, geschlechts- und milieuspezifisch stark. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es wichtig, alle Gruppen in einen breiten Diskurs darüber einzubeziehen, wie wir in Zukunft als Gesellschaft miteinander leben wollen.

Gerade im Arbeitsumfeld ist es an der Zeit, die weit verbreitete Verhaltensunsicherheit zu thematisieren. Es braucht klar kommunizierte Unternehmensstrategien, um diskriminierungsfreie Strukturen und Prozesse zu schaffen und Mitarbeitende auf allen Ebenen zu sensibilisieren und deren Fähigkeiten zu entwickeln, sich und andere zu schützen und in verschiedenen Situationen adäquat zu reagieren. Eine ehrliche Bestandsaufnahme zum Auftreten von Sexismus innerhalb der eigenen Organisationen ist ebenso wichtig, wie die zielgruppenadäquate Ansprache, um Abwehrverhalten zu vermeiden.

Miteinander statt Gegeneinander – auch Männern schadet Sexismus

Eine Kampagne gegen Sexismus ist kein Kampf gegen Männer. Die Studie „Sexismus im Alltag“ (*) zeigt, dass zwar 63% der Frauen in Deutschland bereits sexistische Übergriffe wahrgenommen haben bzw. von ihnen betroffen waren, dies aber auch auf 49% der Männer zutrifft. Die Kriminalitätsstatistik des BKA zu Häuslicher Gewalt (**) belegt, dass zwar 71,1% der Opfer häuslicher Gewalt weiblich und 76,3% der Tatverdächtigen männlich sind, dass aber in den Altersgruppen unter 6 Jahren und 20-30-Jährigen überproportional männliche Personen Opfer von inner-familiärer Gewalt werden. Es ist auch Sexismus, diese Gewalterfahrung zu ignorieren oder zu bagatellisieren und Jungen bzw. Männern weniger Unterstützung zu gewähren. Einseitige Erwartungen an Männlichkeitsvorstellungen schränken Jungen und Männer in ihrer Vielfältigkeit ein und sind Nährboden physischer und psychischer Gewalt. Diese richtet sich häufig gegen Frauen, aber auch gegen Männer, die nicht bestimmten heteronormativen Männlichkeitsbildern entsprechen.

Die Förderung von positiv besetzten, gewaltfreien Männlichkeitsperspektiven und geschlechter-reflektierter Bildungsarbeit ist ein wichtiger Teil des Kampfes gegen Sexismus, der allen gleicher-maßen zugutekommt. Auch hier ist die Vernetzung mit Organisationen, die sich speziell an Jungen und Männer wenden, ein wichtiges Element, um eine Kultur der Fürsorglichkeit und des gegenseitigen Respekts zu entwickeln.

Warum ist der Kampf gegen Sexismus für einen Berufsverband wie den bdvb wichtig?

Sexismus ist nicht nur unmoralisch und gesetzeswidrig, sondern auch leistungsfeindlich. Ein Umfeld, in dem Sexismus toleriert wird, schädigt nicht nur die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen, sondern führt auch nachweislich zu Leistungsabfall, einem erhöhten Krankenstand und vermehrten Kündigungen. Er belastet das Arbeitsklima und untergräbt Anstrengungen zur Förderung von Vielfalt und Inklusion. Die Glaubwürdigkeit von Unternehmen leidet und gerade junge, gebildete Fachkräfte suchen nach einem Arbeitsumfeld, in dem sie Wertschätzung, psychologische Sicherheit, Chancengleichheit und offene Kommunikation erfahren.

Wichtig ist, dass Betroffene Rückhalt von KollegInnen, Vorgesetzten, Arbeitgebern, aber auch der Gesellschaft als Ganzes erhalten. Die Arbeitgeberattraktivität und der Ruf eines Unternehmens hängen auch davon ab, wie mit unangemessenem Verhalten umgegangen wird. Das Eintreten für Gleichberechtigung ist Führungsaufgabe. Unternehmen und ihre Führungskräfte müssen eine Vorbildfunktion beim tätigen Eintreten gegen Sexismus zeigen.

Entscheidend sind das Hinsehen, Erkennen und Einschreiten, wenn Sexismus auftritt, vor allem aber auch präventive Maßnahmen, um sexistisches Verhalten von vornherein zu ächten.

Als Unterzeichner der Kampagne wird der Verband als Organisation an den Maßnahmen gemessen, die dem Bündnis gegen Sexismus zugrunde liegen. Es gilt, die einzelnen Punkte kritisch zu überprüfen, wo der Verband und jedes einzelne Mitglied Verantwortung übernehmen und auf Veränderungen drängen muss. Als Ökonominnen und Ökonomen haben die Mitglieder Expertise, Stellschrauben zur Vermeidung von Sexismus zu identifizieren und organisatorische Strukturen und Abläufe diskriminierungsfrei zu gestalten.

Die Mitglieder des bdvb arbeiten in den verschiedensten Bereichen in Wirtschaft und Gesellschaft und können ihr eigenes berufliches Umfeld beeinflussen. Der bdvb kann seine Aufklärungs- und Informationsfunktion aber nicht nur gegenüber den eigenen Mitgliedern wahrnehmen. Gerade Klein- und Kleinstbetrieben fehlt es oft an den Kenntnissen und Ressourcen, gesetzliche Vorschriften umzusetzen oder Strukturen zu schaffen, in denen Sexismus unterbunden wird. Durch sachkundige Ansprechpartner im Verband können Lösungsansätze aufgezeigt werden, um Betroffene zu bestärken und Alltagssexismus zurückzudrängen.

Arbeitgeber sollten die Prävention von sexueller Belästigung als selbstverständlichen Bestandteil des Arbeits- und Gesundheitsschutzes betrachten

Aus der Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2022 „Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention“:

Sexuelle Belästigungen ereignen sich oft in Vier Augen Situationen. Betroffene befinden sich deshalb in der Regel in Beweisnot. Nur ein Prozent leitet rechtliche Schritte ein. Mangelnde Informationen, Angst vor unzureichender Anonymität und negativen Folgen sowie der Versuch, das Problem selbst zu lösen, sind die häufigsten Gründe. Die Betroffenen gaben an, dass es für sie besonders schwierig sei, eine Belästigung zu beenden oder sich zur Wehr zu setzen, wenn es sich um Übergriffe durch Vorgesetzte handelt. Erschwert wird die Situation, wenn die Betroffenen jung sind oder in Abhängigkeitsverhältnissen stehen, nicht langfristig betrieblich eingebunden sind oder wenig Berufserfahrung haben (z. B. Auszubildende oder PraktikantInnen).

Das Antidiskriminierungsgesetz verpflichtet Arbeitgeber zu Schutzmaßnahmen gegen Sexismus und sexuelle Belästigung, einschließlich des Beschwerderechts für Betroffene. Dies bezieht sich auch auf Belästigung durch Kunden und Vertragspartner. Wenn Arbeitgeber Maßnahmen zum Schutz gegen Sexismus nicht umsetzen oder Belästigungen tolerieren, können sie rechtlich belangt werden. Auch wenn der Gesetzgeber keine konkreten Vorgaben für die Ausgestaltung der Präventionsmaßnahmen getroffen hat, ergibt sich aus dieser Verpflichtung, dass das Haftungsrisiko umso geringer ist, je umfassender die Maßnahmen sind.


(*) Wippermann, C. (2022): Sexismus im Alltag. Wahrnehmung und Haltungen der deutschen Bevölkerung. 4. Auflage. Berlin
(**) Bundeskriminalamt (2023): Häusliche Gewalt. Bundeslagebild 2022. Wiesbaden.

Quellen und Links zum Weiterlesen:

Bildquelle: Bias by Nick Youngson CC BY-SA 3.0 Pix4free

 

Nadja Baldus-Neddermeyer
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Dr. Heike Stengel
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